Rechtschreibung und Aussprache des Mittelniederländischen
Rechtschreibung
Das wichtigste Merkmal der mittelniederländischen Rechtschreibung ist das Fehlen eines Systems. Die Schreibweise war nicht festgelegt; es gab keine Rechtschreibregeln wie wir sie inzwischen kennen. Das hängt vor allem mit der fehlenden Einheitssprache zusammen. Deshalb zeigt sich im überlieferten Material eine große Variation, die nicht nur regional sondern auch bei ein und demselben Autor und sogar innerhalb eines Textes zum Vorschein kommt. Der Rechtschreibung des heutigen Niederländischs liegen einige Prinzipien zugrunde, durch die sie von der des Mittelniederländischen abweicht. Letztere ist in vielerlei Hinsicht phonetischer als die des modernen Niederländischen. Das bedeutet, dass die Übereinstimmung zwischen der Aussprache eines Lautes und dem jeweils entsprechenden Schriftbild größer ist. Man schreibt demnach beispielsweise einerseits <hant> und <coninc> ("Hand"; "König"), aber andererseits <handen> und <coninghe>. Dass zwei Formen ein- und desselben Wortes unterschiedliche Laute aufweisen, hängt mit der sogenannten Auslautverhärtung zusammen, wobei stimmhafte Obstruenten am Ende eines Wortes oder einer Silbe stimmlos ausgesprochen werden. Im modernen Niederländisch hingegen wird dieses Phänomen im Schriftbild nicht zum Ausdruck gebracht, da in diesem Fall die Gleichförmigkeitsregel greift: <hand> und <handen> sind zwei Formen eines Wortes und werden trotz ihrer unterschiedlichen Aussprache auf dieselbe Art und Weise geschrieben. Eine zweite Regel, an der im modernen Niederländisch festgehalten wird, ist das Prinzip der Analogie. Man schreibt demnach <hij wordt> ("er wird") und <zij rijdt> ("sie fährt") analog zu dem <d> in <worden> ("werden") und zur -t-Endung für die 3.Person Singular, wie bei <hij kom-t> ("er kommt"). Im Mittelniederländischen begegnet man diesen Wörtern hingegen lediglich in der Form <wort> und <rijt>. Das kann mitunter zu Verwechslungen führen.
Die Rijmbijbel (1332)
Original: Jacob van Maerlant
Illustrationen: Michiel van der Borch (1.0)
Abgesehen von diesen Abweichungen gegenüber dem modernen Niederländisch lassen sich auch im Mittelniederländischen selbst eine Vielzahl von Unterschieden beobachten. Aussprachedifferenzen zwischen den Dialekten führten von selbst zu regionaler Variation der Schreibweise: während in Limburg meistens door, af und op geschrieben wurde, neigte man in Holland eher zu duer, of und up. In den verschiedenen Skriptorien und Kanzleien bediente man sich darüber hinaus oft weit divergierender Rechtschreibkonventionen, welche ständig angepasst und weiter verändert wurden. Ein Beispiel dafür bildet die Schreibweise der langen Vokale. In sehr frühen Texten werden diese noch durch ein einziges Zeichen wiedergegeben, wodurch sie mit den kurzen Vokalen verwechselt werden können. In etwas späteren Texten begegnet man oft einem <e>, mitunter auch einem <i> zum Zeichen der Vokallänge. Die heutzutage gebräuchliche Verdoppelung des Vokalzeichens kommt im 15. Jahrhundert auf.
Einen Sonderfall bildet die Wiedergabe des langen /i/. Während man in mittelniederländischen Texten je nach Rechtschreibkonvention jaer auch in der Form von jair oder jaar ("Jahr") sowie poert auch als poirt oder poort ("Tür") geschrieben antrifft, können die beiden Grapheme <ie> und <ij>, welche ein langes /i/ andeuten, nicht willkürlich ausgetauscht werden. Demnach findet man auch in einem Text, in dem <i> als Längenzeichen gebraucht wird, Wörter wie niedich ("sehnsüchtig, begierig") oder ries ("Torheit") meistens mit <ie> geschrieben, während man dijc ("Deich") oder nijt ("Leidenschaft, Haß, Gram") in allen Texten mit <ij> geschrieben antrifft, wobei das <j> aus einem früheren <i> hervorgeht. Es ist allerdings anzunehmen, dass dieses Phänomen auch mit einer unterschiedlichen Aussprache der beiden Grapheme zusammenhängt.
Durch das Fehlen einer Standardsprache kamen in den Texten vor allem dialektbedingte Unterschiede zum Ausdruck. Allerdings treten auch innerhalb eines Textes oft Inkonsequenzen auf. Dies verwundert bei literarischen Schriften kaum, da es sich bei den uns überlieferten Texten letzten Endes zumeist um Abschriften handelt, die von mehreren Kopisten angefertigt wurden. Jedoch stößt man auch in amtlichen Stücken, die von nur einem Schreiber verfasst wurden, sehr oft auf verschiedene Formen desselben Wortes. Derartige gleichwertige Formen, die nebeneinander vorkommen, nennt man Dubletten (= Doppelform, orthographische Variante eines Wortes).
Illustration aus
Spiegel Historiael (1325-1335)
Original: Jacob van Maerlant (1.0)
Die kaum vorhandene Interpunktion in mittelniederländischen Handschriften stimmt nicht mit der heutzutage gebräuchlichen Interpunktion überein. Ein Punkt muss nicht gleichbedeutend mit dem Ende einer syntaktischen Einheit sein, so wie wir es heute gewöhnt sind. Manchmal werden Verszeilen in durchlaufend geschriebenen Texten durch Punkte voneinander getrennt. Weiterhin dienen Punkte auch dazu, römische Ziffern als solche zu kennzeichnen und sie von den "normal" gebrauchten Buchstaben zu unterscheiden:
Ende .LX. daghe so ist bekent
("Und sechzig Tage, so ist bekannt.."; aus Der naturen bloeme)
Typische Phänomene
In mittelniederländischen Texten findet man einige Phänomene, die auch im modernen gesprochenen Niederländischen vorkommen, aber nicht in geschriebener Form wiedergegeben werden. Die wichtigsten hierbei sind:-
Der Begriff Assimilation bedeutet soviel wie Angleichung, es handelt sich hierbei also um das Anpassen eines Lautes an seine Umgebung. Dieses lässt sich vor allem an der Wortgrenze (externes Sandhi) oder auch bei Silbengrenzen (internes Sandhi) beobachten. Beispielsweise spricht man das Wort ontbieden oft als "ombieden" aus. Hier kann man eine totale Assimilation des Lautes /t/ erkennen, während das /n/ nur bezüglich des Artikulationsortes an das /b/ angepasst wird und von einem alveodentalen Nasal zu einem bilabialen verschoben wird. In diesem Fall spricht man von einer partiellen Assimilation. Trotz dieser Aussprache verändert sich jedoch im modernen Niederländischen das Schriftbild von <ontbieden> nicht. Im Mittelniederländischen hingegen findet man dieses Wort auch oft in der Form <ombiden> geschrieben. (Man vergleiche hierfür auch im Deutschen Worte wie empfangen und empfinden, die ursprünglich entfangen und entfinden gelautet haben. Hier hat sich die assimilierte Aussprachvariante auch in der Schreibung durchgesetzt.) Auch bei aufeinanderfolgenden Wörtern - also an der Wortgrenze - wird der gegenseitige Einfluss von An- und Auslaut im Schriftbild sichtbar. Beispielsweise wird op die oft in der Form <optie> geschrieben,
wobei das stimmhafte /d/ unter Einfluss des stimmlosen /p/ selbst auch stimmlos wird.
An diesen Beispielen zeigt sich auch, dass die Worttrennung in mittelniederländischen Texten nicht so scharf war wie im heutigen Niederländisch. Wörter, die beim Sprechen eine Einheit formten, wurden im Mittelniederländischen zusammen geschrieben. Vor allem unbetonte Funktionswörter (Wörter, die primär grammatikalische Bedeutung haben; z.B. Artikel, Präpositionen, Pronomina, usw.) wurden oft an das folgende Wort gehängt (z.B.: biderschepenen wille "mit Zustimmung der Schöffen", teseggene "zu sagen").
-
Auch bei einer Klisis werden zwei oder mehrere Wörter aneinander geschrieben - allerdings unter Verlust von Lauten. Schwach betonte Wörter - meistens Funktionswörter - hängen sich an ein stark betontes Wort, wobei sie einen Teil ihrer Laute einbüßen. Je nachdem ob die Inklination (Prozess der Klisis) am Beginn oder am Ende eines Wortes auftritt, spricht man von Proklise (1-3) bzw. Enklise (4-6).
Solche enklitische Formen können oft auch für mehrere Interpretationen in Frage kommen. Beispielsweise kann <hoordi> sowohl auf hoort ghi ("hört Ihr"), hoordet ghi ("hörtet Ihr") als auch auf hoorde hi ("hörte er") zurückgehen. In Ausnahmefällen kann es sogar als hore di ("(ich) höre dich") gelesen werden. Welche Interpretation nun die richtige ist, lässt sich allein aus dem Kontext herleiten. (Man vergleiche hierbei im Deutschen die Formen zum, zur oder beim, die enklitisch aus zu dem, zu der und bei dem zusammengesetzt sind. Die Form am läßt sogar zwei Interpretationsmöglichkeiten offen: an dem oder auf dem.) Klisis kommt übrigens auch im modernen Niederländischen vor, allerdings findet es in der Rechtschreibung keine Berücksichtigung (vgl. z.B. bei schnell gesprochener Sprache khebbem gezien mit der geschriebenen Form <ik heb hem gezien> "ich habe ihn gesehen").(1) darme man
(2) tien tiden
(3) harentare= die arme man
= te dien tiden
= hare ende dare"der arme Mann"
"zu dieser Zeit"
"ier und da"(4) hi cussese
(5) gaedi
(6) kindine= hi cussede se
= gaet ghi
= kinde hi hem"er küßte sie"
"geht Ihr"
"kannte er ihn" - Eine andere Erscheinung, die in der mittelniederländischen Orthographie zum Ausdruck gebracht wird, ist die sogenannte Reduktion. Darunter versteht man den Wegfall von Lauten und die Verkürzung von Vokalen oder deren Abschwächung zum Schwa, dem "stummen e". Reduktion tritt vor allem in unbetonten Silben auf.
- Prokope: Wegfall am Beginn eines Wortes; z.B.: ebben anstelle von hebben ("haben");
- Synkope: Wegfall im Wortinneren; z.B.: hoetbant, te rekene und sire anstelle von hovetbant, te rekenene und sinere ("Stirnband; zu rechnen; seiner");
- Apokope: Wegfall am Ende eines Wortes; z.B.: nach und vrou anstelle von nacht und vrouwe ("Nacht, Frau").
Vor allem die Apokope des Schwa in Auslautposition tritt im Mittelniederländischen häufig auf und hängt eng mit der Reduktion der Kasusendungen und dem damit verbundenen Flexionsverlust zusammen. Auch im heutigen Niederländischen kommt dieses Phänomen vor. In vielen Dialekten und sogar in der Standardsprache wird beispielsweise das <n> am Wortende nicht ausgesprochen (z.B.: Om dit te schrijve(n), heb ik zeve(n) boeke(n) moete(n) leze(n) "Um das zu schreiben, musste ich sieben Bücher lesen."), sehr wohl aber geschrieben. - Neben dem Wegfall von Lauten besteht auch die Möglichkeit, dass ein Laut in ein Wort eingefügt wird. Dieses Phänomen wird Epenthese genannt. Ein Beispiel für einen konsonantischen Gleitlaut - also ein parasitär eingeschobener Konsonant, der sich etymologisch nicht erklären lässt - ist das /s/ in kunst (von kunnen; vgl. dt: Kunst - können). Hierzu gehört auch das sogenannte paragogische t, welches am Ende eines Wortes hinzugefügt wird: Man vergleiche das mittelniederländische Wort nieman mit dem modernen niemand. Der am häufigsten auftretende epenthetische Vokal ist freilich der sogenannte Svarabhakti. Dieser dem Sanskrit entnommenen Term bezeichnet einen Vokal, der zugunsten einer einfacheren Aussprache vor Konsonanten eingefügt wird. Auf diese Weise ist zum Beispiel aus dem westgermanischen Wort *fugl das niederländische vogel - ebenso wie das deutsche Wort Vogel - entstanden. Andere Beispiele sind Wörter wie <arm> und <hoorn>, die oft als arem und hooren ausgesprochen werden. Im Gegensatz zum heutigen Niederländischen, in dem ein allzu deutlich hörbarer Svarabhaktivokal sogar als ungepflegt gilt, wird dieser im Mittelniederländischen auch im Schriftbild wiedergegeben (z.B.: <waremhede> "Wärme").
- Schließlich soll hier noch die Metathese Erwähnung finden. Dieser Term bezeichnet die Umstellung von Konsonanten innerhalb eines Wortes. Diese Erscheinung tritt meistens im Zusammenhang mit dem Liquid /r/ auf. Man vergleiche hierfür das mittelniederländische Wort bernen mit der deutschen Entsprechung brennen und dem englischen burn. Neben der üblichen Form treden ("treten") gibt es im Mittelniederländischen auch noch die Form terden. Ein Vergleich des Wortes vruchten mit dem deutschen fürchten zeigt, dass dieses "Umspringen" von /r/ auch in die andere Richtung möglich ist. Bei eben diesem Wort ist übrigens auch in anderen germanischen Sprachen eine r-Metathese aufgetreten: vgl. das englische Substantiv fright, das dänische frygt, norwegisch frykt und das schwedische fruktan mit Deutsch Furcht und Altniederländisch forchta (aus den Wachtendoncksen Psalmen).
Man unterscheidet drei Typen von Reduktion, je nachdem an welcher Stelle der Laut wegfällt:
Aussprache
Obgleich die Orthographie im Mittelniederländischen also große Unterschiede aufweist, kann sie doch auch bei der Rekonstruktion der Aussprache hilfreich sein. Im Allgemeinen gilt nämlich, dass ein Unterschied in der Schreibung auch auf eine unterschiedliche Aussprache hindeutet. Außerdem kann auch der Reim bei der Suche nach der richtigen phonologischen Realisation der Schriftzeichen von Nutzen sein. Man muss sich allerdings immer darüber im Klaren sein, dass die Rekonstruktion der Aussprache rein spekulativ ist. Unsere Aussprache des Mittelniederländischen ist sicher nicht 'korrekt' (authentisch); sie ist der modernen Aussprache des Niederländischen sehr ähnlich und stark von ihr beeinflusst.
Ein Beispiel: Lautwert von <ij> en <ie>
Wir wissen mit Sicherheit, dass das mittelniederländische Graphemkombination <ij> nicht als Diphtong, sondern als (langer) Monophtong gesprochen wurde. In unserer heutigen Aussprache des Mittelniederländischen sprechen wir daher das mittelniederländische <ij> in z.B. nijt ("Neid") und das <ie> wie in niet ("nicht") mit dem gleichen Lautwert - einem langen [i:] - aus. In mittelniederländischen Texten jedoch reimen sich nijt und niet nie aufeinander. Außerdem werden diese Wörter konsequent mit <ij> bzw. <ie> geschrieben (z.B. wird bei pijn ("Pein") nie ein <ie> verwendet): sie sind also nicht untereinander austauschbar. Daraus kann man schließen, dass <ie> einen anderen Lautwert andeuten muss als <ij>. Es muss einen Unterschied gegeben haben, den wir aber heute nicht mehr rekonstruieren können (vgl. Diphthongierung).
Für die Schreibung des Lautwertes von <eu> (das [ø]) im modernen Niederländisch gibt es im Mittelniederländischen zahlreiche Möglichkeiten. Es kann
als <oe>, <o>, <ue>, aber auch als <u> geschrieben sein. Das letztgenannte Graphem <u> kann aber außerdem auch denselben Laut angeben wie im modernen Niederländischen - nämlich ein [y].
Dies gilt auch für <oe>, das also neben [ø] auch noch einen [u], aber auch einen [o]-Laut anzeigen kann.
Für eine Übersicht über die Schreibvarianten und die damit einhergehenden Lautwerte sei Van Loey (1980) empfohlen. Mooijaart & van der Wal (2008) stellt das Niederländische vom Mittelalter bis ins goldene Zeitalter dar. Einen praktischen Kurs Mittelniederländisch bieten Hogenhout-Mulder (1983) und De Korne & Rinkel (1987). Ein ähnlicher Kurs steht auch online zur Verfügung. Außerdem kann man unter anderem bei van den Toorn (1997), van der Wal (1992 [2008]) und van der Sijs (2005) Informationen über das Mittelniederländische finden.
Querverweise
Das Kasussystem des MittelniederländischenVon Mittelniederländisch zu Neuniederländisch
Rechtschreibung im heutigen Niederländisch