Das Niederländische in Flandern: bis 1914
Von der französischen Besetzung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs
- Vor 1794
- Die französiche Besetzung
- Das Vereinigte Königreich der Niederlande (1814-1830)
- Belgien bis 1914
Vor 1794
Die Trennung der Niederlande im 16. Jahrhundert war für die Entwicklung der niederländischen Sprache auf dem Gebiet des heutigen Belgien von entscheidender Bedeutung. Die Südlichen Niederlande wurden als Spanische und später Österreichische Niederlande weiterhin von den Habsburgern regiert. Die Nördlichen Niederlande wurden unter dem Namen Republik der Verinigten Niederlande ein unabhängiges Staatswesen. Der ökonomische und kulturelle Schwerpunkt verschob sich nach Norden. Die Region Holland löste Flandern und Brabant als bedeutendste Region ab. Bedeutsam für die Entwicklung der Sprache war auch die Religion. Während in den Nördlichen Niederlanden das Niederländische zur Kirchensprache avancierte und mit der Übersetzung der Bibel – der Staten-bijbel – ein wichtiger Schritt in Richtung Normierung der Sprache gemacht wurde, blieb Latein im Süden weiterhin die Sprache der Katholischen Kirche.
Während der Klerus Latein sprach, war Französisch die Sprache der Adligen und höheren Klassen. Die große Mehrheit der Bevölkerung in den Südlichen Niederlanden konnte jedoch weder Lesen noch Schreiben und sprach weiterhin Niederländischen Dialekt. Das Niederländisch verschwand jedoch auch im Süden nie vollständig aus der höheren Kultur. Es gab Lesungen und sogar Zeitungen in der Volkssprache. An akademischen Preisausschreiben durfte sowohl in niederländischer, als auch in französischer oder lateinischer Sprache teilgenommen werden.
Die französische Besetzung
Ernsthaft bedroht wurde das Niederländische erst unter französischer Besetzung. Am 11. September 1794 wurden die Südlichen Niederlande von den Franzosen besetzt und am 1. Oktober durch ein Dekret des Konvents annektiert. Die Bewohner der annektierten Gebiete wurden von der französischen Obrigkeit als französische Bürger angesehen.
Einteilung der
französischen Departements
Es war beabsichtigt die neuen Bürger vollständig zu assimilieren. Hierbei wurden Dialekte und andere Sprachen als hinderlich betrachtet. Die „patois“ (Dialekte) und „idiomes“ (Deutsch, Niederländisch, Katalanisch usw.) hielt man für Waffen in den Händen der Reaktion und bekämpfte sie dementsprechend. Die Parole hieß “un peuple, une République, une langue” (ein Volk, eine Republik, eine Sprache). Als die Verwaltungen einiger niederländischsprachiger Gemeinden den französischen Innenminister auf Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Sprachgesetzgebung aufmerksam machten, antwortete dieser am 20. November 1796 folgendermaßen:
„Das Gesetz, Bürger, bestimmt ausdrücklich, dass alle öffentlichen Dokumente Französisch abgefasst werden müssen. Durch die Sprache werden die Menschen auf die intimste Weise verbunden, und Sie müssen fühlen wie wichtig es ist, dass dieses neue Band die Bürger der neuen Departements mit der Republik verbindet. Es muss einer Verschiedenheit ein Ende bereitet werden, die ein Hindernis für diese Einheit darstellen würde. Jedwede Toleranz auf diesem Gebiet schadet dem Allgemeinwohl, nur die äußerste Notwendigkeit kann sie rechtfertigen, ihr dürft nur in Ausnahmefällen dulden was ihr ganz nicht verhindern können.“
Die Französierungspolitik war also von Beginn an sehr weitgehend und umfasste alle offiziellen Bereiche. Vor Gericht durften nur französische Plädoyers gehalten werden und auch die Urteile wurden französisch gesprochen. Niederländische Akten mussten mit einer französischen Übersetzung versehen werden, wobei nur die französische Version als offiziell betrachtet wurde. Auch das öffentliche Leben wurde so weit wie möglich französiert. Die Beschriftung öffentlicher Gebäude musste einsprachig französisch erfolgen, zweisprachige Straßenschilder waren nur in Gemeinden erlaubt in denen eine Übersetzung absolut unentbehrlich war. Die niederländische Beschriftung musste allerdings kleiner als die französische sein.
Wichtig war auch die Französierung der Schulen und Universitäten. So wurde beispielsweise die Katholische Universität Leuven aufgelöst und durch französische Einrichtungen ersetzt.
Die französischen Maßnahmen zielten vor allem auf das Bürgertum, das auf politischer Ebene die Macht vom Adel übernahm. Die große Masse der Bevölkerung bestand aus Analphabeten und war deswegen für die französischen Maßnahmen nur wenig empfänglich. Es wurde weiterhin niederländischer Dialekt gesprochen.
Das Vereinigte Königreich der Niederlande (1814-1830)
Nach dem Fall Napoleons wurde auf dem Wiener Kongreß beschlossen die Nördlichen und Südlichen Niederlande zu vereinigen. Auf diese Weise sollte ein Pufferstaat gegen Frankreich geschaffen werden. Der neue Staat wurde als Vereinigtes Königreich der Niederlande vom niederländischen König Wilhelm I. von Oranien regiert.
Der neue König war ebenso wie die Franzosen der Meinung, dass ein Land am besten nur in einer Sprache regiert werden sollte. In seinem Fall war diese Sprache niederländisch. Am 1. Oktober 1814 verkündete der König, dass Niederländisch die offizielle Sprache des Reiches werden solle. Zunächst war der Gebrauch des Niederländischen jedoch nicht obligatorisch. Erst 1819 wurde Niederländisch zur einzigen offiziellen Sprache in Limburg, Antwerpen, Ost- und Westflandern erklärt. Außerdem kündigte man an, ab 1823 auch das zweisprachige Brabant nur noch auf Niederländisch regieren zu wollen. Die wallonischen Provinzen behielten Französisch als offizielle Sprache bei.
Es erwies sich jedoch auch in den niederländischsprachigen Gebieten als unmöglich die Gerichte und den Rest der südniederländischen Verwaltung umgehend zu niederlandisieren. Oftmals musste auf nordniederländische Beamte zurückgegriffen werden. Es ist verständlich, dass gerade die französischsprachigen südniederländischen Beamten um ihre Privilegien fürchteten und sich Widerstand gegen die Einführung des Niederländischen formierte. Die Proteste waren so lautstark, dass Ausnahmen genehmigt wurden. So durften beispielsweise vierzehn Brüsseler Rechtsanwälte bis 1825 ihre Plädoyers auf Französisch halten.
Wilhelm I. traf einige Maßnahmen um diesen Missständen abzuhelfen und vor allem das Prestige des Niederländischen zu erhöhen. Die wichtigsten Schritte wurden außer in der Verwaltung, im Unterrichtswesen unternommen. Man begann mit der Niederlandisierung der Volksschulen im gesamten niederländischen Sprachgebiet. Von 1817 bis 1820 richtete die Regierung in fünfzehn Städten Volksschulen ein. Die Unterrichtssprache war Niederländisch. Der Druck aus dem Bürgertum führte jedoch dazu, dass auch Französisch unterrichtet wurde. In Wallonien teilte man die Schulen in französisch- und niederländischsprachige Abteilungen. Neben diesen Schulen für wohlhabende Bürger wurden auch Armenschulen eingerichtet. Auf den Oberschulen blieb Französisch noch länger Unterrichtssprache. Ab 1823 wurde Niederländisch schrittweise auch an den Oberschulen eingeführt. Zum Schuljahr 1829/30 war die Grundlage für ein vollständig niederländischsprachiges Schulsystem in Flandern gelegt. An jeder öffentlichen Schule musste ein Niederländischlehrer angestellt werden. Des weiteren wurden in Lüttich, Brüssel, Gent und Leuven Universitäten gegründet und Lehrstühle für niederländische Literatur und Sprache eingerichtet. Unterrichtssprache an den Universitäten war aber überwiegend Latein.
Die Sprachpolitik Wilhelm I. traf jedoch auf derart heftigen Widerstand, dass sie teilweise zurückgenommen werden musste. Selbstverständlich gab es Proteste in Wallonien, aber auch im niederländischsprachigen Flandern stand das französierte Bürgertum den Maßnahmen des Königs ablehnend gegenüber. Viele junge Akademiker und unter ihnen vor allem Juristen waren während der französischen Besatzung ausgebildet worden und fürchteten nun um ihre Anstellungen. Die Katholische Kirche fürchtete das Niederländisch hingegen als Mittel, um den katholischen Süden mit protestantischem Gedankengut zu durchsetzen. Die Priester nahmen ihre Möglichkeiten wahr, um die ungebildeten Massen zu beeinflussen. Für viele dialektsprechende Flamen klang die nordniederländische Variante so anders, dass sie diese für eine Fremdsprache hielten. Im Frühling 1830 wurden in Flandern mehr als 360.000 Unterschriften für eine Petition gesammelt, die unter anderem forderte, dass man weder Flamen noch Wallonen das „Hollandsch“ aufzwingen solle. Obwohl der König Zugeständnisse machte und im Juni 1830 sogar Sprachfreiheit für Flandern einräumte, konnte er die Revolution nicht mehr verhindern. Die Sprachpolitik war selbstverständlich nicht der einzige Grund für den Ausbruch der Revolution. Hinzu kamen anti-protestantische, ökonomische und republikanische Motive. Der Widerstand gegen die Sprachpolitik war jedoch ein einendes Element der sich ansonsten bis auf’s Messer bekämpfenden Gruppen. Flämische Dorfpriester kämpften Seite an Seite mit liberalen Bürgern.
Sprache oder Dialekt?
Das Zwischenspiel des Königreiches der Vereinigten Niederlande war jedoch für die spätere Entwicklung insofern von Belang, als erstmals große Teile der Bevölkerung mit der Niederländischen Standardsprache in Berührung kamen.
Belgien bis 1914
Im Jahr 1830 werden die Südlichen Niederlande unter dem Namen Belgien ein unabhängiger Staat. Die belgische Unabhängigkeit hatte katastrophale Folgen für die niederländische Sprache im Süden. Artikel 23 (heute Artikel 30) des belgischen Grundgesetzes enthielt folgende Bestimmung: „Der Gebrauch der in Belgien gesprochenen Sprachen ist frei; er darf nur durch Gesetz und allein für Handlungen der öffentlichen Gewalt und für Gerichtsangelegenheiten geregelt werden“. Wie man den freie Gebrauch der Sprachen verstand stellte sich schnell heraus. Bereits am 26. November 1830 wurde Französisch zur alleinigen offiziellen Sprache erklärt. Die vorläufige Regierung konstatierte: „Niederländisch und Deutsch, Sprachen die von den Einwohnern einiger Gegenden gesprochen werden, unterscheiden sich von Provinz zu Provinz und manchmal von Distrikt zu Distrikt. Es ist darum eindeutig, dass es unmöglich ist einen offiziellen Text auf deutsch oder niederländisch auszufertigen.“ Dies war die Begründung nur die französische Fassung der Gesetze für gültig zu erklären. Die niederländischsprachigen „Einwohner einiger Gegenden“ bildeten übrigens schon damals die Mehrheit der Bevölkerung. Die Abgeordneten der niederländischsprachigen Distrikte stellten zwar die Mehrheit im Nationalkongress, aber auch sie sprachen die Sprache der Elite und die war Französisch. Da so gut wie alle Beamten französischsprachig waren, musste sich jeder Belgier auf Französisch an die Obrigkeit richten. Manche Richter betrachteten den Gebrauch des Niederländishcen sogar als Missachtung des Gerichts. Die Freiheit des Sprachgebrauchs war also vor allem die Freiheit der Beamten die Sprache ihrer Klasse zu sprechen. In den niederländischsprachigen Teilen Belgiens blieb Niederländisch die Unterrichtssprache in den Volksschulen für die niedrigen Klassen. In den Schulen des Bürgertums wurde selbstverständlich französisch unterrichtet. An den Universitäten wurde Latein durch Französisch ersetzt. An Niederländisch dachte man nicht, auch in den nördlichen Niederlanden sollte es übrigens noch bis in die 1870er Jahr dauern bevor sich Niederländisch als Unterrichtssprache an den Universitäten durchsetzte. Es ist festzuhalten, dass es nicht nur eine geographische, sondern auch eine soziale Sprachgrenze gab. Letztere bestand zwischen Ober- und Unterschichten in den niederländischsprachigen Gebieten.
Der Widerstand gegen die Französierung war zu beginn vor allem kulturell. Eines der frühesten Symbole der entstehenden Flämischen Bewegung war Hendrik Consciences Buch „Der Löwe von Flandern“ (1838). Das Thema dieses Historienromans ist die Schlacht der goldenen Sporen im Jahre 1302, als eine flämische Bürgerwehr ein französisches Ritterheer in die Flucht schlug. Das Niederländisch Consciences war jedoch so mit Gallizismen und Dialektwörtern durchsetzt, dass es heute fast unlesbar ist. Im 20. Jahrhundert entschied sich deshalb ein flämischer Verlag den Text aus einer französischen Fassung rückzuübersetzen, anstatt das Original zu benutzen. Das größte Problem der ersten „Flaminganten“ war dann auch das Fehlen einer gemeinsamen Standardsprache. Der Kampf gegen die Französierung war zugleich ein Kampf mit der eigenen Sprache.
Während des Vereinigten Königreiches hatte es bereits eine allgemeine Rechtschreibung gegeben: die 1821 eingeführte spelling-Siegenbeek Im neuen Belgien dauerte es bis 1844 bevor diese Rechtschreibung offiziell eingeführt wurde. Ein weiterer Schritt hin zur Standardisierung der Niederländischen Sprache waren die „Nederlandsche Congressen“ die seit 1849 organisiert wurden und an denen Niederländer und Belgier teilnahmen. Diese Kongresse führten zur Entwicklung der spelling De Vries und Te Winkel, die 1864 in Belgien und 1883 in den Niederlanden offiziell eingeführt wurde. Außerdem wurde gemeinsam an einem Wörterbuch, dem „Woordenboek der Nederlandsche Taal“ gearbeitet.
Auf politischer Ebene kam die sich entwickelnde Flämische Bewegung nur langsam voran. Die Regierung richtete 1856 eine Kommission ein, die „Grievencommissie“, in der Lösungen für den Sprachkonflikt gesucht werden sollten. Diese Kommission schlug Zweisprachigkeit für Flandern vor, was jedoch von der Regierung abgelehnt wurde.
Es dauerte bis 1873 bevor Flandern de facto zweisprachig wurde. Ein Gesetz, das sogenannte wet-Coremans, erlaubte Flamen in Flandern in Gerichtssachen ihre eigene Sprache zu sprechen. Das Gesetz wurde erlassen nachdem zwei flämische Arbeiter zu unrecht zum Tode verurteilt worden waren, ohne dass ihrem auf französisch geführten Prozess beteiligen konnten. Das wet-Coremans ebnete den Weg für die folgenden Sprachengesetze, die Flandern de facto zweisprachig machten. Obwohl die Verwaltung in Flandern nun auch auf Niederländisch geschehen musste, hatte jeder Belgier das Recht um auf Französisch bedient zu werden. Wallonien und Brüssel blieben selbstverständlich einsprachig. Die Gesetze veränderten auch nichts daran, dass das Establishment französischsprachig war. Industrialisierung und Demokratisierung der belgischen Gesellschaft gereichten der niederländischen Sprache jedoch zum Vorteil. Nach und nach wurden zweisprachig: Münzen (1886), Geldscheine (1888), Briefmarken (1891) und das Staatsblatt (1895). Den Weg zur echten Gleichberechtigung ebnete jedoch erst die Einführung des allgemeinen Stimmrechts für Männer, da nun die niederländischsprachige Bevölkerungsmehrheit auch politisch repräsentiert war.
1898 wurde das „Gelijkheidswet“ eingeführt. Niederländisch wurde als zweite offizielle Sprache Belgiens anerkannt. Das „Gelijkheidswet“ war das erste Sprachengesetz mit nationaler Bedeutung, alle vorherigen Gesetze hatten sich nur auf den flämischen Teil Belgiens bezogen.
Das Belgien der Jahrhundertwende war nun zwar offiziell zweisprachig, faktisch bestand es jedoch aus einem zweisprachigen Flandern, sowie den rein französischsprachigen Teilen Wallonien und Brüssel. Auch unterrichtet wurde zu einem großen Teil noch ausschließlich auf Französisch. Zwischen 1910 und 1914 wurden Gesetze erlassen, welche die Unterrichtssprache in Grund- und Oberschulen regelten, u.a. wurde bestimmt, dass die Muttersprache eines Kindes auch seine Unterrichtssprache sein müsse. Eine niederländischsprachige Universität gab es allerdings nicht. Eine der wichtigsten Forderungen der Flämischen Bewegung war deshalb die Niederlandisierung der Reichsuniversität Gent.
Ein unverzichtbares Nachschlagewerk zum Thema ist die Encyclopedie van de Vlaamse Beweging. Eine aktuelle sprachgeschichtliche Darstellung liefert Willemyns (2003). Als Einführung in die belgischen Zustände ist Van Istendael (1993) zu empfehlen.